Samstag, 29. September 2012

Technobabble: Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) I

Ich bin (natürlich) mit Vinyl großgeworden. Schon im zarten Alter von drei Jahren war ich als Discjockey in der Famile berühmt. Obwohl ich da noch nicht lesen konnte, konnte ich A- und B-Seite von Rocco Granatas Single "Marina"/"Manuela" mühelos auseinanderhalten (hat meine Mutter immer stolz erzählt - sie hat nie herausgefunden, wie ich das gemacht habe und ich selbst weiß es leider nicht mehr). Den kleinen Braun-Plattenspieler meiner Eltern konnte ich jedenfalls im Schlaf bedienen. Meine erste eigene Single habe ich mit fünf bekommen. Als sich ein paar Jahre später auf dem Plattenteller erstmals "Hey Jude" drehte, weiß ich noch, dass ich staunte, weil der Song einfach nicht enden wollte. Mit 16 kaufte ich mir die erste, nagelneue Hifi-Anlage, da hatte ich schon über 500 LPs und unzählige Singles.

Aber: die Unzulänglichkeiten der analogen Medien haben mich schon gestört, bevor ich mit Digitaltechnik auch nur ansatzweise in Berührung gekommen war. Ich fand es erstaunlich, dass Platten rauschten und knacksten und dies auch noch umso mehr, je häufiger man sie abspielte. Da konnte man sie noch so vorsichtig am Rand anfassen - selbst ungespielte Platten schienen in der Hülle, vermeintlich sicher verpackt, mit den Jahren zu verderben. Manchmal war es zum Verzweifeln. Da man mit Chromdioxid-Cassetten und Dolby B bessere Rauschabstände erreichen konnte, verfiel auch ich eine zeitlang der Idee, Schallplatten beim ersten Abspielen auf Cassette zu überspielen und die Musik zumindest in der ersten Zeit, wo sie noch frisch war, von diesem Medium abzuspielen. Viele meiner Generation träumten damals von einem Spulentonbandgerät - das kam wenigstens optisch an das heran, was man damals in einem Tonstudio vorfinden konnte. Leider konnte man seine Lieblingsalben nicht als vorbespielte "Schnürsenkel"-Bänder kaufen - es gab bestenfalls vorbespielte Compact-Cassetten. Die waren jedoch teuer und klangen, bedingt durch das industrielle Highspeed-Kopierverfahren und die lange vorherrschenden Eisenoxidbänder, mehr als nur dürftig.

Die Geräteentwickler hatten damals ein einfaches, aber unerreichbares Ziel: Klangtreue (gern auch "HiFi" oder "High Fidelity" genannt). Es gab damals sogar eine HiFi-Norm, das war die DIN 45500, in der u.a. festgelegt war, welche Wertegrenzen die Geräte in verschiedenen kritischen Disziplinen einhalten sollten. Die Norm war zwar recht zahm (sonst hätte Vinyl sie ja nicht schaffen können), aber immerhin ein Gütesiegel. Echte "HiFi"-Geräte nach DIN waren teuer.

Schon damals gab es Mystiker, die glaubten zwischen dicken und dünnen Lautsprecherkabeln einen Unterschied zu hören, aber einig waren sich alle: jeder, wirklich jeder wollte seine Lieblingsmusik so unverfälscht wie möglich hören - eben so, wie es Musiker und Produzent im Studio entschieden hatten!

Dass die sogenannten "Audiophilen" diese Maxime inzwischen aufgegeben haben und nun wieder einem Medium huldigen, das sie damals mit Freuden und völlig zu Recht in die Wüste gejagt haben, ist eine absurde Fußnote der Geschichte. Aber diesen Esoterikern ging es schon damals eher darum, möglichst teure und aufwändige Anlagen zu besitzen als Musik darauf abzuspielen - Digitalgeräte waren Anfangs ja extrem teuer und daher hochbegehrt. Heute sind sie das nicht mehr - klar, dass es also wieder andersrum gehen muss.

Daher nun der neue Vinyl-Hype. Allerdings: Aussagen wie "Vinylplatten klingen aber so schön warm und CDs ach so kalt" hatte man bereits in den frühen 1980ern hören können - sie sind natürlich windelweich und völlig subjektiv, dennoch ist es keineswegs völlig irrational, wenn Menschen vorgeben, Vinyl klanglich zu bevorzugen. Man kann das alles durchaus ein Stück weit erklären - neben dem umgekehrten Placebo-Effekt (etwa: ich habe eine Mörderknete für Plattenspieler-Vorstufe-Verstärker-Kabel-Boxen ausgegeben, daher MUSS das jetzt besser klingen, sonst wär ja alles umsonst gewesen) gibt es durchaus mithilfe der Messtechnik und der Psychoakustik nachvollziehbare Erklärungen für dieses Phänomen. Es trägt den schönen Namen: "Klirrfaktor".

Der Klirrfaktor ist bei analoger Schallspeicherung und -übertragung immer eine kritische Größe, denn ihn möglichst klein zu halten erfordert schaltungstechnischen Aufwand, der zu steigenden Fertigungskosten führt. Wer es mag, da mal in die Tiefe zu gehen: Klirrfaktor (Wikipedia)
Bei der Fertigung einer Schallplatte (die ja seit der Einführung des Direct-Metal-Masterings in den frühen 1980ern keinerlei technische Fortschritte mehr gemacht hat) kommt es prinzipbedingt zu Verzerrungen des Audiosignals. Das bedeutet, dass sowohl beim initiierenden Lackschnitt als auch bei jedem Abspielvorgang der fertigen Platte durch die Platte selbst und durch die Übertragungskette dem Signal eine ganze Reihe sowohl gradzahliger als auch ungeradzahliger Oberschwingungen zugefügt werden, die im Original-Master nicht vorhanden waren. Dies bezeichnet man in der Messtechnik als "nicht-lineare Verzerrungen".

Glücklicherweise hat nun jeder Klang "von Haus aus" Oberschwingungen, denn reine Sinustöne kommen in der Natur nicht vor - und insbesondere der Anteil ungeradzahliger Obertöne, die nicht-harmonisch sind und daher insbesondere bei Musik ab einem gewissen Pegel störend wirken können, ist in der Regel gering. Die unterschiedliche Gewichtung von Obertönen sind für das Gehör entscheidend für die Identifikation eines Klangs. Eine Geige und ein Klavier erzeugen beim selben gespielten Grundton ein völlig unterschiedliches Obertonspektrum, an dem wir das jeweilige Instrument mit geschlossenen Augen erkennen können. Wir kennen uns also sehr gut aus mit Obertönen.
Von nicht-linearen Verzerrungen profitieren also im Wesentlichen die natürlich vorhandenen Obertöne, was zu dem psychoakustischen Effekt führt, dass so "behandelte" Klänge einen wahrnehmbaren Gewinn an Präsenz erfahren. Das liegt daran, dass das Gehör eine nicht-lineare Frequenzkurve hat, die im Mittenbereich am empfindlichsten ist (optimiert für Sprachwahrnehmung). Eine annähernd gleichmäßige Verteilung künstlicher Obertöne führt also vorwiegend zu einer gesteigerten Wahrnehmung dort, wo das Gehör am empfindlichsten ist. Gleichzeitig wird das Originalsignal durch die Überlagerung ein Stück weit verdeckt, zusammen mit der ohnehin schlechten Wiedergabetreue von sehr dynamischen Impulsen mit kurzen Attack-Zeiten (z.B. Bassdrum) wird das Signal quasi "verschliffen", was zu weiteren Verzerrungen führt, die sich nun dynamisch auswirken (hohe Dynamik=große Verzerrungen). Das ist nichts anderes als der Effekt, den viele Hörer mit "warm" charakterisieren.

Daher werfen Laien wie auch angebliche Fachleute der Digitaltechnik ja seit jeher vor, sie sei "kalt" und daher herzlos. In der messtechnischen Realität ist sie jedoch nur auf größtmögliche Neutralität getrimmt - nicht vergessen: das war von je her das Ziel aller Audioentwickler (übrigens auch von denen, die bis 1980 noch an der Weiterentwicklung der Vinylschallplatte gerabeitet haben)!
Mit den beim Digital Recording überall verbreiteten 24 bit A/D-Wandlern hat man dieses Ziel inzwischen mit relativ einfachen Mitteln erreicht; auch bei Doppelblindtests ist es selbst Fachleuten mit geschultem Gehör nicht mehr möglich, zwischen einem analogen Original-Mastertape und der digitalen Kopie davon zu unterscheiden.

"Vinyl ist besser" ist also Unfug oder bestenfalls fragwürdige Geschmackssache. Holt man jedoch das offenbar längst überholte Ideal der "Klangtreue" wieder aus der Schublade, kommt man nicht umhin festzustellen, dass eine technische Überlegenheit der Schallplatte objektiv nicht vorhanden ist. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das, was man klanglich beim Vinyl als Benefit empfinden mag, künstliche Obertöne sind, die von der ganzen Fertigungs- und Wiedergabekette hinzugefügt wurden - natürlich ohne Autorisierung der beteiligten Künstler!*
Wem es also auch in diesen aufgeklärten Zeiten darauf ankommt, das Studiomaster exakt so zu hören, wie es die Musiker und der Produzent im Studio entschieden haben, kann das definitiv nicht mit einem Plattenspieler tun (und wenn er noch so teuer war).

*Nebenbei bemerkt gibt es natürlich längst Effektgeräte, die einem Klang künstliche Oberschwingungen zufügen können. In den 1970ern nannte man die "Exciter" - später waren sie verpönt, da sie einen starken Gewöhnungsfaktor hatten - bei längerem Gebrauch ermüdete die Wahrnehmung des Effekts, was den Toningenieur schnell um seine Neutralität brachte.



Die nächsten Folgen dieser Serie:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) II
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) III
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) IV
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) V
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VI
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VII
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VIII 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen